Tod und Trauer im Judentum

Tod und Trauer im Judentum

Mittwochabend, 2. April, 19.30 Uhr. Um den ovalen Tisch in der Calvin Stube haben sich dreizehn Personen um Raphael Weisz versammelt. Um den Tod geht es heute, um Abschieds- und Bestattungsrituale. Herr Weisz beginnt jedoch von vorn. Beim Leben.

Lange Tradition in der Israelitischen Kultusgemeinde Baden
Schon Herrn Weisz’ Vater war in der Synagoge in Baden als Vorbeter aktiv. Er indes engagiert sich seit 30 Jahren in der Gemeinde. Der Fortbestand jüdischer Gemeinden: Seit den 70ern eine konstante Minderheit. Heute wie auch schon in den 90ern beträgt der Anteil jüdischer Menschen in der Schweiz 0,2%. Das sind weniger als andere Minderheiten wie beispielsweise hinduistische und buddhistische Gemeinschaften mit je 0,5% respektive 0,6%. Für das Judentum bedeutet das, dass es unter 500 Menschen einen jüdischen gibt. Das bedeutet, dass das Judentum praktisch unsichtbar ist. An diesem Abend macht Herr Weisz einen Aspekt seiner Religion sichtbar: Wenn der Kreis des Lebens sich schliesst.

Die Würde an oberster Stelle
Vor dem Tod werden den Sterbenden die Sünden entlassen. Das Sündenbekenntnis wird gemeinsam gesungen: «Bei uns wird alles gesungen», scherzt Herr Weisz. Um die Sterbenden nicht zu belasten, wird in der «Wir-Form» gesungen. Dazu gehört auch das heiligste Gebet, das Sch’ma Israel («Höre Israel»), das etwa drei- oder viermal in der Tora vorkommt (z.B. Dtn 6,4). Wie im Katholizismus, so ist es auch im Judentum verboten, das Ableben zu beschleunigen. Geschehe dies, aktiv oder passiv (z.B. durch Exit), so sei dies «eine der grössten Sünden». Das geht sogar so weit, dass man jemanden, der im Sterben liegt, nicht anfassen darf. «Auch nicht das Pflegepersonal?», wirft jemand in die Runde. Herr Weisz bejaht und ergänzt: «Pflegende bemerken besonders, so am Atem, wenn jemand kurz vor dem Sterben liegt.» Jedoch ist der Hungerstreik erlaubt. Herr Weisz spricht aus persönlicher Erfahrung: Sein eigener Vater, verstorben im jüdischen Altersheim in Lengnau, hatte sich für diesen Weg entschieden.

«Das letzte Gewand hat keine Taschen»
Verstirbt jemand und das Telefon bei der Gemeinde in Baden klingelt, so wissen die Beamten: «‹Jetzt muss es schnell gehen.› Das geht meistens ruckzuck. Die bekommen ein Super-Trinkgeld», erzählt Herr Weisz mit einem Augenzwinkern. Wenn möglich wird der Verstorbene innerhalb von 24 h begraben. Dies, da nach jüdischem Glauben die Seele sich im Blut von Mensch und Tier befindet (Gen 9,4). «Bei uns wird kein blutiges Steak gegessen.» Die Beerdigung muss so rasch wie möglich stattfinden, damit die Seele aufsteigen kann, «denn Staub bist du und zum Staub kehrst du zurück» (Gen 3,19). Die Verstorbenen werden nach Dättwil gebracht. Dort gibt es Särge und Totengewänder auf Lager. Die «heiklen Stellen» werden bedeckt. Selbst im Tod darf man die Geschlechtsteile nicht anschauen. Die Leichen werden von Mitgliedern (für Männer) oder von Mitgliederinnen (für Frauen) der Chewra kadischa (die heilige Gemeinschaft) gewaschen, die benutzten Tücher werden nicht weggeworfen. Die Zizit, die «Fransen» des Gebetsmantels des Mannes, werden abgeschnitten. Erneut eine Frage: Wozu denn die seien? «Um die Tora zu küssen», erklärt Weisz, ein Verstorbener braucht sie nicht mehr. Mann und Frau werden vollständig angekleidet. Die Socken des Verstorbenen werden von den Söhnen, und, falls keine vorhanden, von der Chewra Kadischa angezogen. Bereits bei der Hochzeit wird das Totengewand ohne Taschen geschneidert. Denn: «Das letzte Gewand hat keine Taschen.» Darf ein jüdischer Mensch denn überhaupt etwas in den Tod mitnehmen? Zuerst verteilt Herr Weisz ein Bild eines kargen Holz-Sarges. Im Tod, so die Botschaft, sind alle gleich. Wie im Katholizismus gibt es auch im Judentum keine Kremation. In den Sarg gelegt werden als heilige Gegenstände kaputte Gebetsbücher, die Tücher, mit denen die Verstorebenen gewaschen wurden sowie ein Stück heilige Erde aus Israel. Die Kohen, die Priester, die Nachkommen Aarons (Ex 40,13) dürfen nicht auf den Friedhof, da sie nicht mit den Toten in Berührung kommen dürfen. Falls Sie aber die Abdankung halten, gibt es auch (wie so oft im Judentum) dafür eine Lösung: «Unser Rabbiner, der auch ein Kohen war, hatte eine laute Stimme. Der stand dann halt einfach ausserhalb des Friedhofs», so Herr Weisz. Ein Rabbiner aber darf den Friedhof betreten, wenn er kein Kohen ist.

Sieben Tage Trauerzeit
Beim Verlassen des Friedhofs wäscht man sich ausserhalb am Brunnen die Hände. Wie auch im Islam spielen Reinigungsrituale eine grosse Rolle. Zu Hause werden bei den Trauernden alle Spiegel abgedeckt. Werden Gäste empfangen, dürfen diese die Trauernden nicht ansprechen: «Falls man Streit hatte und der Trauernde keine Lust hat, zu reden.» Die Trauerzeit dauert in der Regel sieben Tage, unterbrochen durch den Sabbat. Männer dürfen sich sieben Tage nicht rasieren, Frauen nicht schminken. Die sieben ist eine Glückszahl: «Wenn ein Mann heiratet, muss die Frau siebenmal um den Mann gehen, ihn umgarnen. Er hat jetzt Verpflichtungen und darf nicht mehr jeden Abend mit seinen Kumpels in der Beiz hocken.» Mit mühsamer Handarbeit müssen die Männer das Grab mit Erde zuschaufeln. Auch hierzu hat Herr Weisz eine Anekdote auf Lager: Eine Beerdigung hätte in jüngeren Jahren gleich nach der Fastnacht stattgefunden. Der angetrunkene Herr Weisz sei dann samt Schaufel ins Grab gefallen. Da es eine Beerdigung war, hätte sich niemand getraut, zu lachen. Dafür folgenden Samstag in der Synagoge. Nach elf Monaten wird der Grabstein gesetzt. Es gibt keine Blumengestecke und Kerzen wie bei christlichen Gräbern, sondern es werden Steine auf den Grabstein gelegt, als Zeichen, das Besuch da war. Der Friedhof darf am Schabbat und an Feiertagen nicht betreten werden. Innerhalb des ersten Jahres gibt es kein Amüsement: kein Theater, Kino, keine Feste. Die Trauernden, besonders die Männer, sollen das ganze Jahr hindurch in die Synagoge, singen und beten.

Himmel, Hölle, Fegefeuer?
Nun zur Frage nach dem Jenseits. Ob es wohl einen Himmel und eine Hölle gäbe wie im Christentum oder gar ein Fegefeuer wie im Katholizismus? «Bei uns wird nicht darüber geredet. Man denkt einfach: ‹Es wird schon gut kommen.›» Nach dem Tod steigt die Seele zu Gott auf. Dort wird sie befreit. Sie gelangt in «Ha olam ha ba: Die kommende Welt. In diese kommende Welt, die nicht weiter erörtert wird, kommen auch Nichtjuden, die die 7 noachidischen Gebote halten. «Sheol» bedeutet «Reinigung nach dem Tod». Dabei ist es unklar, ob es sich um einen Ort oder Moment handelt. Der andere Begriff, der von christlicher Seite fälschlicherweise mit «Hölle» gleichgesetzt wird, ist «Gehenem», von Gehinum, daher Tal von Hinom, eines Ortes in Alt-Jerusalem. «So etwas wie eine ‹Hölle› gibt es nicht», endet Herr Weisz den Vortrag, «sondern einen Prozess der Restauration.»

Valeria Sogne, evangelisch-reformierte Theologin und Religionslehrerin an der Kantonsschule Wettingen (Januar bis Juli 2025);
überarbeitet von MA-Judaistik Eliane Moesch